WR: Diese Erinnerung [an die Kindheit], die Sie dazu haben, wie war das für Sie – ist diese Erinnerung für Sie plastisch oder haben Sie das erst alles hinterher erfahren?
Meine Mutter, eine liebevolle Mutter, eine warme polnische Mutter, die vor lauter Güte nie ein negatives Wort gesagt hat, sie war eine kluge Frau, eine starke Frau, dass sie ihre fünf Kinder alleine erziehen wollte. Leider haben sich die Brüder meines Vaters von ihr abgewendet, weil sie ihnen kein Gehör geschenkt hat, ihren Ratschlägen nicht gefolgt ist. Wir hatten kaum Kontakt zu der Familie väterlicherseits, mehr mütterlicherseits. Sie sagte: Klagt nicht, wir haben es schwer, aber schaut wie rundherum arme Leute, auch im Haus wohnen, schaut nicht nach oben, die es besser haben, habt Mitleid und schaut nach unten, nach Leuten, die es noch schlimmer haben als wir.
Ab Frühjahr 1944 kamen Gerüchte auf, etwas ist im Werden, und dann kamen schon die Plakate, die Bekanntmachungen, auf den Wänden in der Stadt, dass in Sorge um unser Wohl da die Front sich nähert, das Ghetto umgesiedelt wird, in die Tiefe des Dritten Reiches. Ich habe versucht das zu verschieben, denn ich kam auf die Idee, als wir auf dem Hof hörten wie sie die Leute einsammelten, der Kleiderschrank war schon von der Wand abgerückt, einen halben Meter, habe ich alle reingestopft, sieben Leute, Mutter, meine vier Schwestern, Tante Eva und den Cousin Leon, Türe aufgelassen, kein Gepäck, manchmal sogar Essen auf dem Tisch gelassen, da hörten wir einige Male: „Ah, die sind schon geholt worden!“. Haben gewartet bis es ruhig geworden ist, bis zu dem letzten Male, als Leute wieder kamen und den Verdacht hatten, dass sich Menschen irgendwo versteckt hätten und zurück in die Wohnung gekommen sind. Und diesmal hörten wir „Finden wir Jemanden, werden wir den sofort erschießen!“. Und meine liebe Mutter, die konnte perfekt deutsch und russisch, konnte es nicht aushalten und sagte: „Nur nicht schießen!“. Da kam ich raus mit Mutter, drei meiner vier Schwestern und die Tante Eva. Meine jüngste Schwester Rosa, zwei Jahre älter als ich und mein Cousin Leon, der Kriegsinvalide mit dem amputierten linken Unterarm, sind da geblieben, in diesem Spalt. Als wir sechs rauskamen waren sie so erstaunt, dass sie nicht nachgeschaut haben ob noch jemand da ist. Später nach dem Kriege habe ich erfahren, dass sie doch entdeckt wurden, und sie sind nach Auschwitz gebracht worden, von dort aus ist meine Schwester Rosa nach Stutthof , von Stutthof zu Eisenbahnarbeiten nach Königsberg und da ist sie umgekommen.
An einer Ecke einen Eimer, eine Filzdecke zum Abschirmen der Notdurft. Und wir konnten nur nebeneinander stehen. Nach einigen Stunden ist der Zug abgefahren, gefahren, Nacht geworden, kein Essen, kein Trinken, stopp, mehrere Stunden, wieder Tag, wieder Nacht, und am nächsten Tag gegen Morgen, hell geworden, der Zug ist stehengeblieben, die Türen aufgerissen, und da waren wir in einer ganz anderen Welt.
Wir kamen zuerst in die „Sauna“, da wurde die erste Stufe der Entmenschlichung eingeleitet, alles Persönliche abgeben, nackt dastehen, da kam die Dusche. Die nächste Stufe der Entmenschlichung war eine Reihe Häftlinge mit Haarschneidemaschinen, die haben von allen Körperteilen die Haare entfernt, und weil es eilig war, da war eine Schlange von Hunderten von Menschen, dann gingen bei dem Haarabschneiden manchmal Hautfetzen mit, dann musste man ein paar Schritte gehen, da saßen Häftlinge an einem langen Trog, mit einer übelriechenden öligen Flüssigkeit, da wurde man mit einem Mopp eingetaucht, womit man heute den Fußboden sauber macht, und den Unterleib, unter den Armen, auf dem Kopf desinfiziert. Es hat an den verletzten Stellen furchtbar gebrannt. Dann kam die nächste Etappe, da standen wieder Häftlinge. Es wurde uns zugeworfen, ein Hemd, eine Hose, eine Jacke und wir wurden auf einen Haufen mit Holzschuhen hingewiesen. Und ich habe eine Hose bekommen, die auch für zwei zu groß wäre. Da fing der Austausch an, man suchte sich einen großen Häftling, der vielleicht eine zu kleine Hose bekommen hat. Das alles geschah in einer tödlichen Ruhe, man hörte keinen Laut, die waren wie Roboter.
Morgens raus aus der Baracke, eine braune Brühe bekommen, Ersatzkaffee, ein Stück Brot, dann mittags, da wurden Häftlinge geholt um einen Kessel mit Essen ins Lager zu bringen. Wir haben in der Schlange gestanden, wir hatten nur einen Löffel in der Hand, aber keinen Teller, wir hatten eine Schüssel, für vier Personen eine Schüssel, dann hat einer der Kapos die Schüssel aufgefüllt, und dann war manchmal etwas im Kessel übrig, dann haben sich Häftlinge angestellt um einen Nachschlag zu bekommen. Und manchmal war der Nachschlag etwas Suppe und manchmal war es ein Schlag mit der Kelle auf den Kopf. Und als ich das gesehen habe, habe ich mich niemals angestellt um etwas extra zu bekommen.
Und im Rennen nach Vorne, da stand eine Gruppe Offiziere, Nazis, SS Leute. Im Augenwinkel sah ich auf einmal Stolpen, Stacheldraht, aber darüber hinaus weiße Isolatoren mit Leitungen. Ich war ja im Ghetto Litzmannstadt Elektriker, da habe ich sofort geschaltet, das sind stromführende Leitungen, wohin bin ich geraten? Wo hat man uns hingebracht? Eines Tages als ich eine Gruppe nackter Männer zwischen Block 16 und 18 gesehen habe, habe ich nach einem gewissen Zögern – ich war sehr scheu – gewagt zu fragen: Was macht Ihr da nackt? Da sagten sie mir, „Wir sind registriert worden, wir warten auf Kleidung um raus zur Arbeit zu gehen“. Und das Wort „raus“ ist ein Signal für mich geworden, ohne weiter nachzudenken, habe ich nach links und rechts geschaut, keine SS, keine Kapos, rein in den Schatten der Wand an den Blocks, meine drei Sachen abgeworfen, meine Jacke, das Hemd, die Hose und mich nackt in die Gruppe gedrängt. Mit der Gruppe dann ins Arbeitslager Groß-Rosen, Außenkommando Dörnhau, dort wurde nach Elektrikern gefragt. Ich sollte für die Stromzufuhr zu dem im Gebirge gesprengten Bunker für zukünftige Waffenfabriken sorgen. Mit Eisenschuhen an den Stolpen hochsteigen, dann Schuhe heruntergelassen, Leitung hochgezogen, Isolatoren angebracht. Der Vorteil war, als ich oben saß, war ich aus dem Bereich der SS-Leute.
Der Zug setzte sich in Bewegung, es wurde Nacht, wieder Tag, wieder Nacht und am nächsten Tag morgens, nach mehreren Aufenthalten, wurden die Türen aufgerissen und wir hörten nur, „Raus, raus, schnell, schnell, schnell!“. Da waren solche merkwürdigen Männer in Kleidung wie in Schlafanzügen, grau-blau gestreiften Pyjamas, und die schrien nur „Raus, raus, raus“. Ich hatte meinen Rucksack um den Arm, und er [ein Kapo] riss ihn von meinen Arm, ich rief, „Aber meine Briefmarkensammlung!“, ich sehe ihn noch buchstäblich vor mir, sein Gesicht, wie er sich herunterbeugt und sagt „Hierher kommt man nicht um zu leben!“ und ich dachte noch, „Was redet der für einen Unsinn!“